11
Jun
2014

VOM LAND

Wenn der Pickup auf dem Römerweg halt macht, der gar kein Römer- sondern ein kopfsteingepflasterter alter Weinbauernweg ist, wenn die beiden Hunde herunter springen und dem Schäfer folgen, der anfängt, den Zaun rund um das Grundstück zu ziehn, kommen die Schafe.

Wenn die Kühe jenseits des Römerwegs nachts unruhig werden, hören wir ihre Glocken.

Auf dem Weg in den Supermarkt können wir den Ziegen begegnen, die von einem Weideplatz zum anderen getrieben werden.

Wenn der Bauer kommt, um unsere Blumen Wiese zu mähen und der Traktor beängstigend hoch beladen das Heu zu seinen Pferden bringt, wenn rundum die Weinernte anfängt, dann glauben wir zu wissen, dass wir auf dem Land leben.

Leben wir auf dem Land? Nur eine halbe Stunde Fussweg von einem Bahnhof entfernt, in dem die Züge nach Mailand und Genf halten? Nah bei Ferienorten, die in alten und neuen Luxusherbergen Klientel aus aller Welt betreuen?
Nah bei den Verwaltungsgebäuden internationaler Konzerne? Mitten in einer Region, die derzeit das schweizweit grösste Bruttosozialprodukt erwirtschaftet?

Vielleicht ist es in der Schweiz unmöglich, auf dem Land zu leben ohne zugleich in einer Stadt zu sein. Unser winziges Land - Städte, Seen, Gebirge, Industriezonen, Ballungsräume, Landwirtschaftsgebiete - eingeschlossen passt drei Mal in eine einzige Megacity wie Shanghai oder Sao Paulo..

Kein Wunder, dass wir uns in der Illusion gefallen, auf dem Land zu leben.

Du hast keine Mühe, Dir Heidi auf die nächst gelegene Hochalm zu projizieren, Du kennst Alphörner und Bernhardiner Sennenhunde nicht nur aus der Tourismuswerbung. Du sprichst Deinen Dialekt wie eine Hochsprache, magst Berner Troubadoure und drückst die Daumen für den FC Basel.

Aber Du wirfst einen scheuen Blick auf die Bettler von Lausanne, Du bittest um Geld für die Mützen der Strassenmusikanten, die ihrem Instrument nur fünf Töne entlocken können, Du gehst im Zug Randalierern aus dem Weg und wolltest, die Welt jenseits Deines Zuhauses gäb’s nur im Kopf, im Netz oder den Büchern aus der Bibliothek.

Noch aber gibt es harmlosere Katastrophen, die Dir die Realität vergällen: ein dunkles Zimmer ohne Licht im Flur. Spinnen, Käfer, Fliegen, Wespen. Birkenpollen, die Dich schnupfen und weinen machen. Mathelehrer, Bauchschmerzen, treulose Freundinnen und Freunde und Kühe mit gesenkten Hörnern auf dem Wanderweg, der mitten durch die Herde führt.

22
Mai
2014

VOM SEE

vom-SeeDu siehst, auf mich ist wenig Verlass. Ostern ist längst vorbei. Du warst nicht lange hier, aber für eine Seefahrt nach Frankreich war Zeit genug.
Frankreich ist nah. Die Grenze ist offen.

„Gehen wir an den See“, hast Du gefragt, kaum war Dein Wortschatz gross genug. Damals waren zwei Spielplätze die Favoriten, einer in La Tour, einer in Territet.
Inzwischen sind Dir viele Wege zwischen Genf und dem Delta vertraut.
Ein Spielplatz muss nicht mehr dabei sein.
Manchmal geht es darum, die Schwäne und Enten am Kanal zu füttern, wobei die Wasservögel hungriger bleiben als Du und der Hund.
Manchmal locken die Karussels am Quai von Vevey oder Lausanne, manchmal die Tretboote in Lausanne oder ein Dampfer nach Evian.

War der See schon immer da? Wird er immer da sein?

Aelter ist er als die Ritter und Burgfräulein, die Du Dir –währschaft in Plastik gegossen- aus dem Schloss Chillon mitgebracht hast, noch älter als die römischen Soldaten auf den Playmobil Schachteln, die wir auf der Suche nach einem „Playmobil – Campingplatz“ (Dein Osterwunsch) in den Läden entdeckt haben.

Viel älter. Ob er immer da sein wird? Wer kann das wissen.

Nehmen wir an, man könne ihn so wenig verbauen wie die Savoyer Alpen.
Es gäbe immer noch mehr Häuser in den Weinbergen, immer noch mehr Häuser, Einkaufszentren und Tankstellen im Ueberschwemmungsgebiet des Deltas. Immer mehr Autos auf der Autobahn zwischen Genf und Sion.
Aber der See und die Steilhänge des Grammont blieben verschont.

Dann läge der See vom Haus auf dem Hang aus betrachtet - immer grad so da wie Du ihn siehst, wenn Du kommst:
aufgeraut zu kleinen silbrigen Wellen, wenn der Wind sanft ist. Grün und von Schaumkronen gezeichnet, wenn von Westen her Sturm aufzieht, schwarz bei Gewitter. Und endlos.

Allerdings werden unter dem See Erdgasvorkommen vermutet. Vielleicht ragen einmal Bohrtürme aus dem Wasser
Eine Versuchsbohrstelle ist schon eingerichtet.

Noch sehn wir von hier aus nichts davon.

Manchmal ist es ganz gut, nicht zu sehn, was wir nicht sehn wollen.

15
Mrz
2014

GESTERN HEUTE MORGEN

Du wirst dieses Tagebuch erst viel später lesen. Wenn überhaupt.
Vielleicht existiert es nicht mehr, vielleicht hast Du keine Lust, es zu lesen.
Vielleicht gibt es uns nicht mehr.

Ich schreib es also nicht nur im Gedanken an Dich, ich schreib es für mich.
Warum ein Web Tagebuch?
Weil ich genau wie Du oft genug zu faul bin, zu Ende zu bringen, was ich mir vorgenommen habe.
Ein Web Tagebuch erst einzurichten und dann die Seiten leer zu lassen, käme mir vor als hätte ich gegen mich selbst gewettet und verloren.

Warum ein Tagebuch?
Weil sich Zeit darin verfängt. Unversehns wird Heute Gestern und Morgen Heute.

Absichtlich oder unabsichtlich werde ich Vieles auslassen oder vergessen. Aber falls Du je darin blättern solltest, wirst Du auch ein kleines Stück Deiner Welt wieder finden.
Von grossen Gefühlen wird nicht die Rede sein. Deine werden in Deinem eigenen TB Platz finden.

Kunst kommt nicht vor. Es wird nur Banales verhandelt.

Fotos anzusehen, die Dich selbst zeigen, war ein paar Jahre lang eine Marotte von Dir. Von dem Augenblick an, an dem Du keinen Mittagsschlaf mehr gehalten hast, wolltest Du, wenn Du zu Besuch gekommen bist, den PC angeschaltet haben und „Babyfotosanschaun.“

Du warst fasziniert davon, dass das Ding auf dem Wickeltisch die gleiche Person gewesen ist wie die, die jetzt drei Jahre oder fünf Jahre alt war.
Zugleich hattest Du ein erstaunliches Gedächtnis.
„Ich mag mich gut erinnern“ hast Du gesagt. Und warst nie verlegen darum, den realen Ort oder die reale Situation zu beschreiben, in der die Bilder entstanden sind.

Derzeit hast Du Anderes im Kopf. Aus jedem Deiner Lebensjahre gibt es hunderte Fotos von Dir. Sie langweilen Dich schon.

Jetzt sind Dir Figuren ohne Schwerkraft lieber. Monster, die Dir Alpträume verursachen, Feen und Prinzessinnen, Rollerblader und Sprayer, die Du auf dem Tablet über Züge springen und jedem Verfolger entkommen lassen kannst.
Du warst im Kino und im Theater, Du siehst Videos, Du kennst Dich in youtube aus. Du kennst viele Leute. Du hast nicht nur im Kopf, sondern in Wirklichkeit schon diverse Länder bereist und hunderte Märchen und Geschichten gehört.

Du wirst Dein eigenes TB schreiben. Das hier wird meins sein.

12
Mrz
2014

BLAU

Meine Liebe
Den Td.n Bloggern steht ein vorgefertigtes Bild zur Verfügung. Es zeigt die Silhouette eines schwarzen Kopfes vor grünem Hintergrund. Sie kann durch ein eigenes Bild ersetzt werden.

Wodurch könnte ich es ersetzen?

Vor zwei Jahren – da warst Du sieben - hab ich Dir die Camera in die Hand gedrückt und gesagt, nimm auf, was Du magst. Die Camera ist einfach zu bedienen. Du hast sie über Deinen Kopf nach oben gehalten, auf den Knopf gedrückt und den Himmel fotografiert.
Der Himmel war schönwetterblau wie Himmel halt so sind, wenn von ihnen die Rede ist.
Blau war Deine Lieblingsfarbe.

Deine Vorlieben ändern sich.
Jetzt hab ich Dich ein paar Wochen lang nicht gesehn. Wer weiss welche Farbe Dir derzeit am liebsten ist.
Im Augenblick bist Du auf der Bettmer Alp zu finden. Ein Heidi im Skianzug, inmitten Deiner Kindergruppe im Wettbewerb um Medaillen.
Die Eltern sind mit Dir vor der Basler Fasnacht geflohn, weil Dich Lärm aus dem Gleichgewicht bringt.

Du bist eine merkwürdige Person. Zugleich ängstlich und draufgängerisch, gesellig, sanft und jähzornig bis zur Hysterie. Du bist gescheit, aber gibst auf, wenn’s Dich Mühe kostet.
Mit PC und Tablet bist Du fix. Vorlesen lässt Du Dir gern (von Deinen Erwachsenen, von der Kassette, von CDs). Selber lesen langweilt Dich.
Blueme liiab ich, sagst Du. Du pflückst sie am liebsten aus der Wiese und wolltest, wenn Du gross bist, ein Blumengeschäft eröffnen.
Das dürfte sich inzwischen geändert haben.
Jetzt machst Du einen Karatekurs. Im Chor singst Du immer noch. Das hältst du schon lange durch.

Wo wirst Du in zehn Jahren sein, was wirst Du in zehn Jahren tun?
Auch Deine Erwachsenen haben keine rechte Vorstellung von dem, was in zehn Jahren sein wird.

Wir leben im gleichen Land und zur gleichen Zeit und doch in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten. Manchmal treffen wir uns.
Demnächst zu Ostern.
Inzwischen ersetz ich das schwarz grüne Logo durch Himmelblau. Ueber Wörter reden wir später.

6
Mrz
2014

WESTLICH

Alles ist wie immer.

Ich sitze am Computer. Wenn ich den Kopf hebe, seh ich jenseits des Sees die immer noch tief verschneite Kette der Savoyer Alpen und ein wenig weiter westlich über die Landes Grenze hinweg nach Frankreich. Alles ist friedlich. Graublauer Märzhimmel, Westwindwetter, wechselhaft. Die ersten Knospen im Garten.

Auf dem Nebentisch flach ausgebreitet die Weltkarte. (political wall map, miller cylindrical projection, 1: 45.500. 000, copyright 2009)
Europa darauf ein kleiner Flickenteppich links. Ihn abzumessen, dafür reicht die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger. Für Afrika bracht es Handteller und Finger, für Russland reichen zwei Handbreiten nicht aus.

Aber da sind ja noch Indien und China, Australien, die beiden Amerika, Kanada…..
Die Welt - flach und ungerührt - auf Glanz Papier gedruckt: rosa und blau, hellgrün, violett, ocker und gelb.

Ich positioniere mich in einem winzigen europäischen Land, somit notwendigerweise in einem Raum, den die die Medien „der Westen“ zu nennen pflegen und gehöre zu einer Gemeinschaft, die die Medien mit dem Label „internationale Gemeinschaft“ versehn.
„Der Westen“ ist grösser als Europa, aber auf der Landkarte nicht besonders gekennzeichnet.

In der „internationalen Gemeinschaft“ haben nicht alle Platz.

Deshalb bleiben draussen: „Rogue States“ oder „Unrechtsstaaten“ „Chaos Staaten“, das „Reich des Bösen“, „die Achse des Bösen“. Draussen bleiben „Diktatoren“ „Autokraten“ und andere zweifelhafte Existenzen.

Woraus folgt, dass wir zu den Guten gehören. Es sei denn, wir würden plötzlich zu den Bösen gezählt.

Das kann schnell gehen.

Wie mir im Alltag Wörter, Sätze, Bilder begegnen, die Gute in Böse verwandeln und Böse in Gute – davon handelt dieses Tagebuch.
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