23
Nov
2014

ZEHN

016

Der zehnte Geburtstag. Deine Erwachsenen sind älter, Du bist erwachsener geworden. Es gab Zeiten und Kulturen, in denen zehnjährige Mädchen verheiratet wurden.

Deinen ersten Geburtstag haben wir glamourös gefeiert – in einem Schweizer Ski Resort. Deine Eltern hatten gute Jobs. Der Job Deiner Mutter hat den Aufenthalt im Hotel mit sich gebracht. Für sie war’s Arbeit und Luxus zugleich.

Die Kellner haben Dir den Geburtstagskuchen in der Halle serviert und Du hast unter allgemeiner Anteilnahme mit eigener Kraft die Kerze ausgeblasen. Dann bist Du mit Deinem neuen Plastik Tretrad um den Tisch gekurvt. Warst Du müde davon haben wir Dich abwechselnd durch die Gänge getragen, während die anderen Gäste sitzen blieben, um ihre Cocktails zu trinken.
Draussen war’s eisig, der Schnee lag hoch. In Deinem Zimmer flackerte der Kamin. Die Zukunft schien viel versprechend.
Das war vor der Wirtschaftskrise.

Inzwischen hat sich einiges verändert. Nennen wir’s „Neue Bescheidenheit“.
Nicht, dass es Dir nun schlecht ginge.
Aber die Zukunft ist kleinlaut geworden. Sie weiss nicht wohin.
Die damals so triumphal verkündeten westlichen Kriegserfolge in Afghanistan und im Irak haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Andere Kriege sind dazu gekommen.
Wenige sind reicher, viele sind ärmer geworden.
Massenproteste, Krisen und Konflikte entstehn, wo sie niemand zuvor vermutet hat.
Armut und Kriege bringen die Flüchtlinge auch nach Europa.
Tausende Häuser und Wohnungen sind gebaut worden. Aber die Mieten sind für die hoi polloi unerschwinglich.
Auf den Autobahnen stehn die Autos still und in den Zügen drängen sich die Menschen.

Von nun an wird Dir all das so „normal“ vorkommen wie die Mode der Zehner Jahre und die sozialen Netzwerke, Smartphones, Apps, Tablets und jene winzigen Supercomputer, von deren allgemeiner Verfügbarkeit sich noch an Deinem ersten Geburtstag kaum jemand eine Vorstellung machen konnte.
Und wenn Du je Vertrauen in „den Fortschritt“ haben solltest, dann vielleicht in eine stets fortschreitende technologische Verbesserung der Welt, seien es nun „alternative“ Energien oder Flugkörper, die wie Rosetta innerhalb Deiner ersten zehn Menschenjahre einen fernen Kometen ansteuern und erreichen konnten.

Mag sein, dass Du ganz andere Träume träumst.
Rollenvorbilder, Berufe, Religionen und Weltbilder scheinen für Dich zur Wahl zu stehn wie Waren. Wenn Du willst, heisst es, musst Du Dich nicht einmal mehr mit Deinem Geschlecht zufrieden geben. Alles geht.

In der Zwischenzeit allerdings versuchen Supermarkt und Werbung mehr denn je das Weibchen aus Dir heraus zu kitzeln.
Mehr Talmi und Flitter, mehr Süsse, mehr Feen und Prinzessinnen, mehr Popkultur, mehr Schminke, mehr Haut, mehr Hardcore und Wettbewerb war für Mädchen noch nie im Angebot.
Also wähle. Aber hast Du freie Wahl?
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