FRIEDEN

Wir leben in friedlichen Zeiten.
Die Hubschrauber über unseren Köpfen bringen Baumstämme ins Tal und neue Fliesen zur Baustelle der Nachbarin.
Drohnen fotografieren für die Landwirtschaft.
Am 1. August sehn wir Kampfjets in gewagten Manövern über den See fliegen, um den Nationalfeiertag zu ehren. Den zelebrieren wir mit Feuerwerksraketen, Papierfähnchen und Picknick im Freien.
Und doch ist der Krieg ganz nah.
Jeden Tag, wenn ich den Computer starte und die Homepage auf dem Bildschirm erscheint, sind sie da:
die jungen Männer in Tarnanzügen und Kampfstiefeln, Patronengürteln um Bauch und Schultern geschlungen, Maschinengewehre in der Hand. Das Gesicht durch Skimasken oder Tücher verhüllt. Nur die Augen sichtbar. Hinter ihnen Barrikaden, brennende Reifen, Autowracks, Ruinen, Verwundete, Leichen.
Wir sehn Flugzeugträger und Panzer. Wir wissen über Drohnen bescheid, die ferngesteuert töten.
Wir haben schon Dutzende Autos gesehn, die am Strassenrand explodieren und jeden in Stücke reissen, der zufällig vorbei kommt.
Wir haben uns an Leute gewöhnt, die fliehn. Kinder, die schreien.
An Zeltlager und Notunterkünfte so gross wie Städte, in denen es an Wasser und Essen fehlt.
Die Soldaten dieser Kriege heissen je nach Perspektive: Soldaten, Freiheitskämpfer, Revolutionäre, Aktivisten, Terroristen, Rebellen, Separatisten, Extremisten, Djihadisten, Aufständische, Milizen….
Die Kriege heissen asymmetrische Kriege oder bewaffnete Konflikte. Manche sind älter als Du und dauern fort.
An manchen sind wir indirekt beteiligt, an manchen direkt.
Wo die Guten und wo die Bösen sind, wissen wir derzeit nicht mehr so genau. Es geht so schnell, wir kommen nicht mehr nach. Darüber zu reden gehört nicht zum guten Ton.
Fussball ist vergnüglicher. Wir haben Weltmeisterschaften. Wenn unser Ländchen gewonnen hat, hören wir von der Autobahn her jubeln und hupen.
Ich wollte, ich könnte Dir über die Schulter sehn, wenn Du über die Zeiten schreibst, in denen Du neun oder zehn warst.
Und dazu wünsch ich Dir so friedliche Zeiten wie die, in denen wir uns derzeit aus sicherer Distanz an den vor hundert Jahren begonnenen ersten Weltkrieg erinnern.
Aber das ist eine andere Geschichte.
dana wolf - 18. Jun, 19:53